Es folgt eine Reise in den Süden Italiens, nach Neapel, das sich Mitte des vergangenen Jahrhunderts erst noch zu einer modernen Großstadt entwickelt, und dort in ein Viertel armer, einfacher Leute, die man nach heutigen Begriffen bildungsfern und konservativ nennen könnte. Hier sprechen sie im derben neapolitanischen Dialekt, der trotz einer reichen literarischen Tradition als Sprache der Unterschicht gilt und jenseits der Stadtgrenzen kaum verstanden wird. Das spiegelt sich so authentisch in der Serie wider, dass die Episoden selbst im italienischen Fernsehen mit Untertiteln ausgestrahlt werden mussten.
In dem Arme-Leute-Viertel wachsen die Mädchen Elena Greco und Raffaella Cerullo, genannt Lila, auf. Elena ist Tochter eines Pförtners, Lilas Vater ist Schuster, ein gewalttätiger, jähzorniger Mann, der seinem Sohn an den Kragen geht und Lila aus dem Fenster auf die Straße wirft, wenn sie widerspricht. Gewalt ist in diesem Milieu eher Regel als Ausnahme, Streit wird mit den Fäusten ausgetragen, Hass und Verachtung sind grassierende Gefühle. Und Angst, Angst vor dem Paten Don Achille, der das Viertel beherrscht. Das Italien dieser Serie ist jedenfalls ganz anders als das Bella Italia, das sich die Deutschen in den 50er-Jahren als Urlaubsdestination erobern.
Die Freundschaft
Gegensätze ziehen sich an
Lila und Elena freunden sich in der Schule an, beide gehören zu den Klassenbesten. Doch während Lila scheinbar ohne Mühe noch den schwersten Stoff beherrscht, muss sich Elena den Erfolg hart erarbeiten. Trotzdem ist es Elena, die schließlich auf die Mittelschule geht, die hochbegabte Lila muss in der Werkstatt ihres Vaters mitarbeiten. Die Familie kann sich das Schulgeld nicht leisten, abgesehen davon, dass Lilas Eltern gar nicht einsehen, warum ein Mädchen zur Schule gehen soll, wenn es genauso gut arbeiten kann.
Lila ist ein eigenwilliges, rebellisches Mädchen, furchtlos und standhaft, schroff und unberechenbar. Sie läuft nicht weg, wenn größere Jungs mit Steinen nach ihr werfen. Über ihre Lippen kommt kein Wort der Entschuldigung, auch wenn Don Achilles ältester Sohn sie wegen einer vermeintlichen Beleidigung in den Würgegriff nimmt. Später, als Heranwachsende, weigert sie sich, den überkommenen Regeln der chauvinistisch geprägten Gemeinschaft zu gehorchen. Ihren Bildungshunger stillt sie, die nicht zur Schule gehen darf, durch die Lektüre unzähliger Bücher, die sie in der Gemeindebibliothek ausleiht. Sie lernt Latein und Griechisch – und ist auch darin ihrer besten Freundin voraus.
Starke Lila, ängstliche Lenù
Elena, genannt Lenù, ist zurückhaltend, ängstlich und scheu. Mit großen Augen schaut sie auf eine Welt, die sie nicht versteht, aber deren Regeln sie sich unterwirft. Lenù leidet unter ihrer lieblosen Mutter und auch ihr Vater unterstützt sie eher halbherzig in ihrem Wunsch, weiter zur Schule zu gehen. Eine Lehrerin ist es schließlich, die Lenù hilft – aus nicht ganz uneigennützigen Motiven. Im Viertel muss halt jeder sehen, wo er bleibt.
Die starke Lila gibt Lenù Halt. Zusammen mit ihr stellt sie sich ihren Ängsten, den Schatten im Keller, dem fiesen Don Achille, den älteren Jungs, der Schulprüfung. Was Lila auch tut, Lenù folgt ihr. Und in Zeiten, in denen Lila abtaucht und sich nicht blicken lässt, fühlt sich Lenù wie halb, unvollständig, schutzlos.
Ihre Beziehung ist keine Ponyhof-Freundschaft. Auch Rivalität, Streit, Liebesentzug, Eifersucht, Misstrauen haben ihren Platz im Lila-Lenù-Universum. Und doch hält das innige Band zwischen den beiden allen Bewährungsproben stand, es reißt nicht. Es ist Lenù, zu der Lila mit ihren Geheimnissen geht. Die Geschichte, die sie geschrieben hat, zeigt sie als erstes ihrer besten Freundin. Die Schuhe, die sie mit ihrem Bruder heimlich entwirft, darf nur Lenù sehen. Wenn einer der Solara-Brüder Lenù zu nahekommt, stellt sich Lila dazwischen.
Lenù gelingt es schließlich, den Ort ihrer Kindheit hinter sich zu lassen – aber das ist ein Thema der nächsten Staffeln, die zweite ist bereits in Planung. Lila dagegen bleibt bei aller Rebellion gegen ihre Eltern, die alten Sitten, einen hartnäckigen Verehrer und bei aller Verachtung für die Heuchelei und Unterwürfigkeit ihrer Mitmenschen dem Viertel treu, arbeitet in der Schusterei ihres Vaters, bis sie schließlich in bürgerlichen Wohlstand hineinheiratet. Die beiden Freundinnen stehen sich so gut es geht dabei zur Seite – verbundene Seelen auf getrennten Wegen.